Sonntag, 4. Oktober 2009

Stiller - Max Frisch

Zitate aus Stiller von Max Frisch

Ich bin nicht Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle. Warum lassen sie nicht ab?


Man kann alles erzählen, nur nicht sein Wirkliches Leben- diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle, und jenes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen- nur um sagen zu können: „Ich kenne dich“

Das ist es: Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit. Ich liege auf meiner Pritsche, schlaflos von Stundenschlag zu Stundenschlag, versuche zu denken, was ich tun soll. Soll ich mich ergeben? Mit lügen ist es ohne weiteres zu machen, ein einziges Wort, ein so genanntes Geständnis, und ich bin „frei“, das heißt in meinem Fall: dazu verdammt, eine Rolle zu spielen, die nichts mit mir zu tun hat. Andererseits: wie soll einer beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist? Ich kanns nicht. Weiß ich denn selbst, wer ich bin? Das ist die erschreckende Erfahrung dieser Untersuchungshaft: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit.

Wieder einmal das bekannte Gefühl: fliegen zu müssen, auf der Brüstung des Fensters zu stehen (in einem brennenden Haus?) und keinerlei Rettung zu haben, wenn nicht durch plötzliches Fliegen-Können. Dabei die Gewissheit: Es hilft gar nichts, sich auf die Straße zu stürzen, Selbstmord ist Illusion. Das bedeutet: fliegen zu müssen im Vertrauen, dass eben die Leere mich trage, also Sprung ohne Flügel, einfach Sprung in die Nichtigkeit, in ein nie gelebtes Leben, in die Schuld durch Versäumnis, in die Leere als das Einzigwirkliche, was zu mir gehört, was mich tragen kann...

Ja, wer soll lesen, was ich in diesen heften schreibe. Und doch, glaube ich, es gibt kein Schreiben ohne die Vorstellung, dass jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewusster Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt in meiner Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor, wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es, man kann es nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten. Aber wen soll diese tote Haut noch interessieren! Die immer wieder einmal auftauchende Frage, on denn der Leser jemals etwas anderes zu lesen vermöge als sich selbst, erübrigt sich: Schreiben ist nicht Kommunikation mit dem Leser, auch nicht mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermöchte, um so reiner erschiene das Unaussprechliche, das heißt die Wirklichkeit, die den Schreiber bedrängt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden. Wer schweigt, ist nicht stumm. Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist.

Habt ihr das Buch gelesen? Wenn ja, mochtet ihr es?


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen